Stress bei Viertklässlern
Am 2. Mai erhalten Viertklässler im Würmtal Übertrittszeugnisse für weiterführende Schulen
Notendruck, Übertrittsstress: Schon in der Grundschule verlieren viele Kinder die Lust am Lernen. Dabei sollten die ersten Schuljahre ein geschützter Raum sein, in dem ihre Persönlichkeitsentwicklung und ihre Lernentwicklung gefördert werden, so Professorin Katrin Lohrmann, Inhaberin des Lehrstuhls für Grundschulpädagogik und -didaktik an der LMU.
Ihre Studenten ermutigt sie deshalb, nicht die Noten, sondern das Kind und seine Entwicklung in den Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen und im Lehrendenzimmer auf Kooperation zu setzen.
Noten - ein Reizthema
Noten sind ein Reizthema, vor allem wenn der Übertritt naht. Zu Beginn der Grundschuljahre wird ganz auf sie verzichtet. Warum?
Katrin Lohrmann: In den ersten Jahren der Grundschulzeit ist ein erhöhtes Selbstkonzept der Kinder erklärtes pädagogisches Ziel. Denn die Grundschule ist ein Ort, der das Bild von Lernen prägt. Sie soll die Persönlichkeitsentwicklung und die Lernentwicklung fördern und den Kindern zeigen, wie bereichernd es ist, die Welt zu entdecken und dazuzulernen. Wir schaffen einen geschützten Raum und versuchen, die Kinder zu stärken und herauszukitzeln, was in ihnen schlummert.
Packt man die Kinder mit dem Notenverzicht nicht in Watte?
Ein bisschen schon, aber die positive Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten spornt an. Sie weckt die Freude am Lernen und führt zu besseren Leistungen, umgekehrt stärken bessere Leistungen das Selbstkonzept.
"Wo es Noten gibt, gibt es Gewinner und Verlierer." (Katrin Lohrmann)
Wie Schulnoten wirken
Was ändert sich, wenn Noten ins Spiel kommen?
Katrin Lohrmann: Wo es Noten gibt, gibt es Gewinner und Verlierer. Denn Noten laden dazu ein, sich zu vergleichen und zu überprüfen, wo man in der Rangfolge der Klasse steht. Für viele Kinder geht die Einführung von Noten darum mit Schwierigkeiten einher: Die negative Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten frustriert und führt vielfach zu schlechteren Leistungen. Sehr schnell entwickeln die Kinder ein Gespür dafür, dass in der Schule manche Fähigkeiten mehr zählen als andere. Das schmerzt. Hinzu kommt: Wenn Kinder den Eindruck gewinnen, dass das Lernen nur dazu dient, Prüfungen zu schreiben, verlieren die Inhalte und die Freude, sich mit ihnen zu beschäftigen, an Bedeutung.
Sind Noten also per se negativ?
Das Problem ist, dass weder Kinder noch Eltern wissen, was eigentlich hinter Noten steckt. Denn Noten sind verdichtete Information. Mal ist die Lernentwicklung darin enthalten, mal nur das Leistungsergebnis. Mal geht es auch darum, wie sehr sich ein Kind angestrengt hat, mal, wie gut es mit anderen zusammenarbeitet. Noten bedürfen darum der Interpretation. Aber die wird oft nicht mitgeliefert.
Und: Noten spiegeln zwar die Leistung in Bezug auf die jeweilige Klasse recht gut wider, nicht aber über Klassen hinweg. Wir sprechen in der Forschung von dem negativen Referenzgruppeneffekt.
Alternativen zu Schulnoten
Bei verbalen Beurteilungen besteht das umgekehrte Problem: Man hat zu viele Informationen.
Katrin Lohrmann: Forschungsergebnisse zeigen, dass das Potenzial verbaler Beurteilungen in der Praxis oft nicht ausgeschöpft wird. Um ausführliche Rückmeldungen geben zu können, muss eine Lehrkraft den Lernprozess ihrer Schülerinnen und Schüler sehr genau begleiten. Das ist bei einer Klasse von 25 Individuen nicht einfach. Zudem sind die Beurteilungen für Eltern oft schwer zu dekodieren – vor allem dann, wenn Sprachbarrieren existieren.
Sind mündliche Lernentwicklungsgespräche besser?
Nicht unbedingt. Es kommt darauf an, wie man ein solches Gespräch führt. Kinder können von Lernentwicklungsgesprächen sehr profitieren, wenn sie gelernt haben, über ihren Lernweg zu reflektieren und sich mit der Lehrkraft darüber auszutauschen. Die große Chance besteht darin, die individuelle Entwicklung des Kindes in den Mittelpunkt zu stellen.
Und am Ende wünschen sich die Eltern dann doch eine Note, weil der Übertritt näher rückt, von dem so viel abhängt.
Ich glaube nicht, dass sich Eltern Noten wünschen, vielmehr fordern aktuelle rechtliche Vorgaben diese ein. Die Rahmenbedingungen zum Übertritt sind aus meiner Sicht problematisch. Es wäre für alle Beteiligten wichtig, den Ball flach zu halten. Aber das fällt im Alltag oft schwer.
Wäre es besser, den Elternwunsch auch in Bayern stärker zu berücksichtigen?
Das zieht andere Probleme nach sich. Es kann zum Beispiel die soziale Ungleichheit weiter erhöhen. Bildungsnahe Schichten schicken ihre Kinder dann aufs Gymnasium, bildungsferne nicht. Die Frage wäre eher, ob man den Freiraum der ersten beiden Schuljahre verlängern und länger auf Noten verzichten sollte. Aber es greift zu kurz, nur die Noten wegzulassen. Dadurch ändert sich erst mal nicht viel.
"Es geht darum, den Mut zu haben, Unterricht zu verändern, das Kind und sein Lernen selbst in den Mittelpunkt zu stellen und die Potenziale der Kinder zu entdecken." (Katrin Lohrmann)
Worum geht es stattdessen?
Katrin Lohrmann: Darum, den Mut zu haben, Unterricht zu verändern, das Kind und sein Lernen selbst in den Mittelpunkt zu stellen und die Potenziale der Kinder zu entdecken. Das stellt hohe Anforderungen an die Lehrkraft. Aber es gibt viele Beispiele aus der Praxis, wie dies gut gelingen kann.
Was raten Sie Ihren Studenten, die ja Lehrerinnen und Lehrer werden wollen?
Wir motivieren sie, den Lernprozess zu fokussieren und zu begleiten und die bestehenden Freiräume zu nutzen. Viele Lehrkräfte finden erfolgreich Wege für sich. Etwa, indem sie die Kinder Portfolios machen lassen, statt eine Probe zu schreiben. Die Kinder lösen diese Aufgaben so unterschiedlich, dass man erst gar nicht vergleicht. Vor allem aber regen wir unsere Studierenden an, Schule auch jenseits aktuell bestehender Strukturen zu denken, Visionen zu entwickeln. Wie kann, wie soll die Schule der Zukunft gestaltet sein, die für alle Schüler:innen ein zentraler Raum zum Leben und Lernen ist?
Gibt es etwas, das Sie derzeit trotz Lehrkräftemangel und unflexibler Strukturen optimistisch stimmt? Die Digitalisierung vielleicht?
In der Digitalisierung stecken viele Möglichkeiten, den Unterricht neu und anders zu denken, Vielfalt wertzuschätzen und das gemeinsame Lernen der Kinder zu fördern. Aber das Wichtigste ist Kooperation. Einzelkämpfertum ist kein Zukunftsmodell. Vielmehr braucht es die Arbeit in professionellen Teams, in denen man Unterricht gemeinsam entwickelt, sich über Probleme austauscht und einander unterstützt. Das Gleiche gilt für die Kinder. Sich Wissen gemeinsam zu erarbeiten ist eine Fähigkeit, die sowohl Kinder als auch Erwachsene benötigen.
Quelle: Ludwig-Maximilians-Universität München
Stress bei Viertklässlern
Am 2. Mai erhalten Viertklässler im Würmtal Übertrittszeugnisse für weiterführende Schulen
Notendruck, Übertrittsstress: Schon in der Grundschule verlieren viele Kinder die Lust am Lernen. Dabei sollten die ersten Schuljahre ein geschützter Raum sein, in dem ihre Persönlichkeitsentwicklung und ihre Lernentwicklung gefördert werden, so Professorin Katrin Lohrmann, Inhaberin des Lehrstuhls für Grundschulpädagogik und -didaktik an der LMU.
Ihre Studenten ermutigt sie deshalb, nicht die Noten, sondern das Kind und seine Entwicklung in den Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen und im Lehrendenzimmer auf Kooperation zu setzen.
Noten - ein Reizthema
Noten sind ein Reizthema, vor allem wenn der Übertritt naht. Zu Beginn der Grundschuljahre wird ganz auf sie verzichtet. Warum?
Katrin Lohrmann: In den ersten Jahren der Grundschulzeit ist ein erhöhtes Selbstkonzept der Kinder erklärtes pädagogisches Ziel. Denn die Grundschule ist ein Ort, der das Bild von Lernen prägt. Sie soll die Persönlichkeitsentwicklung und die Lernentwicklung fördern und den Kindern zeigen, wie bereichernd es ist, die Welt zu entdecken und dazuzulernen. Wir schaffen einen geschützten Raum und versuchen, die Kinder zu stärken und herauszukitzeln, was in ihnen schlummert.
Packt man die Kinder mit dem Notenverzicht nicht in Watte?
Ein bisschen schon, aber die positive Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten spornt an. Sie weckt die Freude am Lernen und führt zu besseren Leistungen, umgekehrt stärken bessere Leistungen das Selbstkonzept.
"Wo es Noten gibt, gibt es Gewinner und Verlierer." (Katrin Lohrmann)
Wie Schulnoten wirken
Was ändert sich, wenn Noten ins Spiel kommen?
Katrin Lohrmann: Wo es Noten gibt, gibt es Gewinner und Verlierer. Denn Noten laden dazu ein, sich zu vergleichen und zu überprüfen, wo man in der Rangfolge der Klasse steht. Für viele Kinder geht die Einführung von Noten darum mit Schwierigkeiten einher: Die negative Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten frustriert und führt vielfach zu schlechteren Leistungen. Sehr schnell entwickeln die Kinder ein Gespür dafür, dass in der Schule manche Fähigkeiten mehr zählen als andere. Das schmerzt. Hinzu kommt: Wenn Kinder den Eindruck gewinnen, dass das Lernen nur dazu dient, Prüfungen zu schreiben, verlieren die Inhalte und die Freude, sich mit ihnen zu beschäftigen, an Bedeutung.
Sind Noten also per se negativ?
Das Problem ist, dass weder Kinder noch Eltern wissen, was eigentlich hinter Noten steckt. Denn Noten sind verdichtete Information. Mal ist die Lernentwicklung darin enthalten, mal nur das Leistungsergebnis. Mal geht es auch darum, wie sehr sich ein Kind angestrengt hat, mal, wie gut es mit anderen zusammenarbeitet. Noten bedürfen darum der Interpretation. Aber die wird oft nicht mitgeliefert.
Und: Noten spiegeln zwar die Leistung in Bezug auf die jeweilige Klasse recht gut wider, nicht aber über Klassen hinweg. Wir sprechen in der Forschung von dem negativen Referenzgruppeneffekt.
Alternativen zu Schulnoten
Bei verbalen Beurteilungen besteht das umgekehrte Problem: Man hat zu viele Informationen.
Katrin Lohrmann: Forschungsergebnisse zeigen, dass das Potenzial verbaler Beurteilungen in der Praxis oft nicht ausgeschöpft wird. Um ausführliche Rückmeldungen geben zu können, muss eine Lehrkraft den Lernprozess ihrer Schülerinnen und Schüler sehr genau begleiten. Das ist bei einer Klasse von 25 Individuen nicht einfach. Zudem sind die Beurteilungen für Eltern oft schwer zu dekodieren – vor allem dann, wenn Sprachbarrieren existieren.
Sind mündliche Lernentwicklungsgespräche besser?
Nicht unbedingt. Es kommt darauf an, wie man ein solches Gespräch führt. Kinder können von Lernentwicklungsgesprächen sehr profitieren, wenn sie gelernt haben, über ihren Lernweg zu reflektieren und sich mit der Lehrkraft darüber auszutauschen. Die große Chance besteht darin, die individuelle Entwicklung des Kindes in den Mittelpunkt zu stellen.
Und am Ende wünschen sich die Eltern dann doch eine Note, weil der Übertritt näher rückt, von dem so viel abhängt.
Ich glaube nicht, dass sich Eltern Noten wünschen, vielmehr fordern aktuelle rechtliche Vorgaben diese ein. Die Rahmenbedingungen zum Übertritt sind aus meiner Sicht problematisch. Es wäre für alle Beteiligten wichtig, den Ball flach zu halten. Aber das fällt im Alltag oft schwer.
Wäre es besser, den Elternwunsch auch in Bayern stärker zu berücksichtigen?
Das zieht andere Probleme nach sich. Es kann zum Beispiel die soziale Ungleichheit weiter erhöhen. Bildungsnahe Schichten schicken ihre Kinder dann aufs Gymnasium, bildungsferne nicht. Die Frage wäre eher, ob man den Freiraum der ersten beiden Schuljahre verlängern und länger auf Noten verzichten sollte. Aber es greift zu kurz, nur die Noten wegzulassen. Dadurch ändert sich erst mal nicht viel.
"Es geht darum, den Mut zu haben, Unterricht zu verändern, das Kind und sein Lernen selbst in den Mittelpunkt zu stellen und die Potenziale der Kinder zu entdecken." (Katrin Lohrmann)
Worum geht es stattdessen?
Katrin Lohrmann: Darum, den Mut zu haben, Unterricht zu verändern, das Kind und sein Lernen selbst in den Mittelpunkt zu stellen und die Potenziale der Kinder zu entdecken. Das stellt hohe Anforderungen an die Lehrkraft. Aber es gibt viele Beispiele aus der Praxis, wie dies gut gelingen kann.
Was raten Sie Ihren Studenten, die ja Lehrerinnen und Lehrer werden wollen?
Wir motivieren sie, den Lernprozess zu fokussieren und zu begleiten und die bestehenden Freiräume zu nutzen. Viele Lehrkräfte finden erfolgreich Wege für sich. Etwa, indem sie die Kinder Portfolios machen lassen, statt eine Probe zu schreiben. Die Kinder lösen diese Aufgaben so unterschiedlich, dass man erst gar nicht vergleicht. Vor allem aber regen wir unsere Studierenden an, Schule auch jenseits aktuell bestehender Strukturen zu denken, Visionen zu entwickeln. Wie kann, wie soll die Schule der Zukunft gestaltet sein, die für alle Schüler:innen ein zentraler Raum zum Leben und Lernen ist?
Gibt es etwas, das Sie derzeit trotz Lehrkräftemangel und unflexibler Strukturen optimistisch stimmt? Die Digitalisierung vielleicht?
In der Digitalisierung stecken viele Möglichkeiten, den Unterricht neu und anders zu denken, Vielfalt wertzuschätzen und das gemeinsame Lernen der Kinder zu fördern. Aber das Wichtigste ist Kooperation. Einzelkämpfertum ist kein Zukunftsmodell. Vielmehr braucht es die Arbeit in professionellen Teams, in denen man Unterricht gemeinsam entwickelt, sich über Probleme austauscht und einander unterstützt. Das Gleiche gilt für die Kinder. Sich Wissen gemeinsam zu erarbeiten ist eine Fähigkeit, die sowohl Kinder als auch Erwachsene benötigen.
Quelle: Ludwig-Maximilians-Universität München
Stress bei Viertklässlern
Am 2. Mai erhalten Viertklässler im Würmtal Übertrittszeugnisse für weiterführende Schulen
Notendruck, Übertrittsstress: Schon in der Grundschule verlieren viele Kinder die Lust am Lernen. Dabei sollten die ersten Schuljahre ein geschützter Raum sein, in dem ihre Persönlichkeitsentwicklung und ihre Lernentwicklung gefördert werden, so Professorin Katrin Lohrmann, Inhaberin des Lehrstuhls für Grundschulpädagogik und -didaktik an der LMU.
Ihre Studenten ermutigt sie deshalb, nicht die Noten, sondern das Kind und seine Entwicklung in den Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen und im Lehrendenzimmer auf Kooperation zu setzen.
Noten - ein Reizthema
Noten sind ein Reizthema, vor allem wenn der Übertritt naht. Zu Beginn der Grundschuljahre wird ganz auf sie verzichtet. Warum?
Katrin Lohrmann: In den ersten Jahren der Grundschulzeit ist ein erhöhtes Selbstkonzept der Kinder erklärtes pädagogisches Ziel. Denn die Grundschule ist ein Ort, der das Bild von Lernen prägt. Sie soll die Persönlichkeitsentwicklung und die Lernentwicklung fördern und den Kindern zeigen, wie bereichernd es ist, die Welt zu entdecken und dazuzulernen. Wir schaffen einen geschützten Raum und versuchen, die Kinder zu stärken und herauszukitzeln, was in ihnen schlummert.
Packt man die Kinder mit dem Notenverzicht nicht in Watte?
Ein bisschen schon, aber die positive Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten spornt an. Sie weckt die Freude am Lernen und führt zu besseren Leistungen, umgekehrt stärken bessere Leistungen das Selbstkonzept.
"Wo es Noten gibt, gibt es Gewinner und Verlierer." (Katrin Lohrmann)
Wie Schulnoten wirken
Was ändert sich, wenn Noten ins Spiel kommen?
Katrin Lohrmann: Wo es Noten gibt, gibt es Gewinner und Verlierer. Denn Noten laden dazu ein, sich zu vergleichen und zu überprüfen, wo man in der Rangfolge der Klasse steht. Für viele Kinder geht die Einführung von Noten darum mit Schwierigkeiten einher: Die negative Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten frustriert und führt vielfach zu schlechteren Leistungen. Sehr schnell entwickeln die Kinder ein Gespür dafür, dass in der Schule manche Fähigkeiten mehr zählen als andere. Das schmerzt. Hinzu kommt: Wenn Kinder den Eindruck gewinnen, dass das Lernen nur dazu dient, Prüfungen zu schreiben, verlieren die Inhalte und die Freude, sich mit ihnen zu beschäftigen, an Bedeutung.
Sind Noten also per se negativ?
Das Problem ist, dass weder Kinder noch Eltern wissen, was eigentlich hinter Noten steckt. Denn Noten sind verdichtete Information. Mal ist die Lernentwicklung darin enthalten, mal nur das Leistungsergebnis. Mal geht es auch darum, wie sehr sich ein Kind angestrengt hat, mal, wie gut es mit anderen zusammenarbeitet. Noten bedürfen darum der Interpretation. Aber die wird oft nicht mitgeliefert.
Und: Noten spiegeln zwar die Leistung in Bezug auf die jeweilige Klasse recht gut wider, nicht aber über Klassen hinweg. Wir sprechen in der Forschung von dem negativen Referenzgruppeneffekt.
Alternativen zu Schulnoten
Bei verbalen Beurteilungen besteht das umgekehrte Problem: Man hat zu viele Informationen.
Katrin Lohrmann: Forschungsergebnisse zeigen, dass das Potenzial verbaler Beurteilungen in der Praxis oft nicht ausgeschöpft wird. Um ausführliche Rückmeldungen geben zu können, muss eine Lehrkraft den Lernprozess ihrer Schülerinnen und Schüler sehr genau begleiten. Das ist bei einer Klasse von 25 Individuen nicht einfach. Zudem sind die Beurteilungen für Eltern oft schwer zu dekodieren – vor allem dann, wenn Sprachbarrieren existieren.
Sind mündliche Lernentwicklungsgespräche besser?
Nicht unbedingt. Es kommt darauf an, wie man ein solches Gespräch führt. Kinder können von Lernentwicklungsgesprächen sehr profitieren, wenn sie gelernt haben, über ihren Lernweg zu reflektieren und sich mit der Lehrkraft darüber auszutauschen. Die große Chance besteht darin, die individuelle Entwicklung des Kindes in den Mittelpunkt zu stellen.
Und am Ende wünschen sich die Eltern dann doch eine Note, weil der Übertritt näher rückt, von dem so viel abhängt.
Ich glaube nicht, dass sich Eltern Noten wünschen, vielmehr fordern aktuelle rechtliche Vorgaben diese ein. Die Rahmenbedingungen zum Übertritt sind aus meiner Sicht problematisch. Es wäre für alle Beteiligten wichtig, den Ball flach zu halten. Aber das fällt im Alltag oft schwer.
Wäre es besser, den Elternwunsch auch in Bayern stärker zu berücksichtigen?
Das zieht andere Probleme nach sich. Es kann zum Beispiel die soziale Ungleichheit weiter erhöhen. Bildungsnahe Schichten schicken ihre Kinder dann aufs Gymnasium, bildungsferne nicht. Die Frage wäre eher, ob man den Freiraum der ersten beiden Schuljahre verlängern und länger auf Noten verzichten sollte. Aber es greift zu kurz, nur die Noten wegzulassen. Dadurch ändert sich erst mal nicht viel.
"Es geht darum, den Mut zu haben, Unterricht zu verändern, das Kind und sein Lernen selbst in den Mittelpunkt zu stellen und die Potenziale der Kinder zu entdecken." (Katrin Lohrmann)
Worum geht es stattdessen?
Katrin Lohrmann: Darum, den Mut zu haben, Unterricht zu verändern, das Kind und sein Lernen selbst in den Mittelpunkt zu stellen und die Potenziale der Kinder zu entdecken. Das stellt hohe Anforderungen an die Lehrkraft. Aber es gibt viele Beispiele aus der Praxis, wie dies gut gelingen kann.
Was raten Sie Ihren Studenten, die ja Lehrerinnen und Lehrer werden wollen?
Wir motivieren sie, den Lernprozess zu fokussieren und zu begleiten und die bestehenden Freiräume zu nutzen. Viele Lehrkräfte finden erfolgreich Wege für sich. Etwa, indem sie die Kinder Portfolios machen lassen, statt eine Probe zu schreiben. Die Kinder lösen diese Aufgaben so unterschiedlich, dass man erst gar nicht vergleicht. Vor allem aber regen wir unsere Studierenden an, Schule auch jenseits aktuell bestehender Strukturen zu denken, Visionen zu entwickeln. Wie kann, wie soll die Schule der Zukunft gestaltet sein, die für alle Schüler:innen ein zentraler Raum zum Leben und Lernen ist?
Gibt es etwas, das Sie derzeit trotz Lehrkräftemangel und unflexibler Strukturen optimistisch stimmt? Die Digitalisierung vielleicht?
In der Digitalisierung stecken viele Möglichkeiten, den Unterricht neu und anders zu denken, Vielfalt wertzuschätzen und das gemeinsame Lernen der Kinder zu fördern. Aber das Wichtigste ist Kooperation. Einzelkämpfertum ist kein Zukunftsmodell. Vielmehr braucht es die Arbeit in professionellen Teams, in denen man Unterricht gemeinsam entwickelt, sich über Probleme austauscht und einander unterstützt. Das Gleiche gilt für die Kinder. Sich Wissen gemeinsam zu erarbeiten ist eine Fähigkeit, die sowohl Kinder als auch Erwachsene benötigen.
Quelle: Ludwig-Maximilians-Universität München